Interview:
Theater für alle.
Poetisches Theater
im Öffentlichen Raum

Der Regisseur Stefan Behr zählt mit seiner Compagnie Theater Anu zu den erfolgreichsten Straßentheatergruppen in Deutschland. Ob die Parkbespielung „Lichtspuren“ oder das riesige Lichterlabyrinth, das als Bühne der „Großen Reise“ dient, immer sind es poetische Inszenierungen, die mehrere Tausend Menschen in ihren Bann ziehen. Für eine Nacht verwandelt sich urbaner Raum in einen Wunschort aus Licht, Spiel und Installation, der staunen lässt.

Herr Behr, Sie beschreiben Ihre Kunst als poetisches Theater im Öffentlichen Raum. Was bedeutet für Sie poetisches Theater?

Die Dramaturgie der Poesie ist grundsätzlich anders als die Dramaturgie des dramatischen Theaters. Das dramatische Theater stellt immer die unüberwindbaren Hürden, die Tragik und so weiter, in den Vordergrund während das poetische Theater die Leichtigkeit, das Leise, das Schöne als Mittel benutzt, um seine Geschichten zu erzählen. Die Probleme sind niemals so riesengroß, dass man sie nicht mit überspringen könnte. Das poetische Theater lebt von der Leichtigkeit, von der Sinnlichkeit, und von was noch? Von den kleinen Geschichten, die den Besucher anrühren sollen, auf eine ganz sinnliche Art und Weise. Und es entlässt den Besucher anders aus der Theatervorstellung – ohne Schwere.

Sie sagen, dass Sie mit Ihrem Theater Welten erschaffen. Beschreiben Sie doch bitte eine Ihrer Welten.

Ich glaube, es ist schon eine neue Welt, indem man die Trennung zwischen Bühnenraum und Zuschauerraum aufhebt. Man erschafft einen Kosmos, in den der Zuschauer eintauchen kann. In unserer Produktion „Die große Reise“ ist dies im Moment am konsequentesten umgesetzt: Der Zuschauer geht in das Labyrinth. Am Eingang bekommt er einen Koffer und begibt sich damit auf die Reise, den Weg durch diesen Irrgarten aus Tausenden von Kerzen suchen. Er wird ein Teil dieser Welt. So kommt er an verschiedenen Stationen vorbei, an denen gespielt wird, zum Teil mit ihm, zum Teil bleibt er Beobachter. Die Auflösung von Zuschauerraum und Publikumsraum erschafft eine Welt, eine Atmosphäre, in die der Zuschauer eintauchen kann. Das ist ein großer Wert, finde ich, diese Form von Theater. Es nimmt nicht nur den ganzen Menschen mit hinein, es nimmt ihn in seiner Ganzheit ernst.

Sie sprechen vom Theater im Öffentlichen Raum. Was verstehen Sie darunter?

Das erste und vielleicht entscheidendste ist die freie Zugänglichkeit, erst einmal. Da sind Plätze, Straßen, Parkanlagen, die zu einer Stadt gehören, die insofern zum Öffentlichen Raum gehören, indem sie für jeden zugänglich sind. Und darin liegt auch der besondere Wert: Zum einen haben wir ein wesentlich breiter gefächertes Publikum, was die Fragen von Alter, Stand und Status betrifft. Diese Breite erreicht man im klassischen Literaturtheater nicht. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist, dass man hier mit Orten spielt. Das heißt, diese Orte haben ja Geschichte und Geschichten. Und die Menschen, die dort leben, haben Erfahrungen mit diesem Ort, haben eine bestimmte Sichtweise auf ihn. Ob man will oder nicht, ob man sich darum bemüht, oder nicht, die Geschichten, die vielen Energien, die in so einem Ort sind, werden immer mitspielen. Das ist wirklich ein grundliegender Unterschied zur schwarzen Bühne. Die schwarze Bühne ist ein Un-Ort, der eben keine Geschichte haben darf. Und ein Bühnenbildner zimmert die Welt dort hinein.

Licht spielt in Ihren Inszenierungen eine große Rolle. Sie spielen nur bei Dunkelheit. Wie unterschiedlich sind die Orte, wenn es Nacht ist?

Für beide Inszenierungen, Lichtspuren und die Großen Reise, spielt der Ort immer eine wichtige Rolle. Schon allein deswegen, weil er einfach vorhanden ist. Man kann ihn gar nicht negieren. Bei der Großen Reise werden die Labyrinthe für jeden Ort neu kreiert, aber auch bei Lichtspuren werden für jede Inszenierung die Standorte der einzelnen Spielstationen, der einzelnen Installationen ausgesucht, ganz ortspezifisch. Nochmals: Man kann den Ort nicht negieren, man muss mit ihm umgehen. Und er ist da, mit seiner Atmosphäre, in seiner Schönheit oder Nicht-Schönheit, er ist einfach vorhanden. Und jetzt geht es darum, mit diesen Formen, mit diesen Energien, die da sind, auch zu spielen und umzugehen.

Herr Behr, Sie sind auch künstlerischer Leiter eines internationalen Straßentheater- festivals, Sie kennen sich im Bereich Kulturmanagement gut aus. Wie ist Theater im Öffentlichen Raum oder Straßentheater in der aktuellen Kulturlandschaft Deutschlands einzuschätzen?

Es ist vor allem ein Genre, das von unten her organisiert und gewachsen ist. Das heißt, viele kleine Städte in Deutschland haben Festivals, haben Verortungen, haben für dieses Genre ein Forum geschaffen. Dort ist es anerkannt, die Festivals haben sehr hohe Besucherzahlen. Auf der anderen Seite erleben wir, dass dieses Genre seine Schwierigkeiten in der Anerkennung in der kulturpolitischen Diskussion auf Landes- und Bundesebene in Deutschland hat. Dies ist in anderen Ländern anders. Zum Beispiel in Frankreich, wo das Genre wesentlich mehr geschätzt und gefördert wird als in Deutschland. Ich glaube, dass es sehr viel Potential hat und dass es Zeit ist, dem Genre auch einmal die Möglichkeit zu geben, zu beweisen, was es kann. Und kann. Ich bin überzeugt, dass das Theater im Öffentlichen Raum ein unglaubliches Potenzial in sich trägt, weil es eben ganz breite Bevölkerungsgruppen ansprechen kann.

Wie sieht dieses Potenzial aus?

Theater ist ein Teil der großen Erzähltradition. Und als Geschichtenerzähler glaubt man an die Kraft der Geschichten, dass sie für das Menschsein wichtig sind und auf ihre Art und Weise Nutzen erbringen. Die Theater in geschlossenen Räumen haben das Problem, dass nur einen sehr kleinen Kreis von Menschen erreicht. Also man geht davon aus, dass weniger als zehn Prozent der Bevölkerung überhaupt ins Theater geht. Das bedeutet, will man mit Mitteln des Theaters die Kraft dieser Geschichten auch in Zukunft mittels des Theaters entfalten, wenn man das für wichtig hält, dann wird man sich auch nach anderen Formen des Theaters umschauen müssen. Straßentheater oder Theater im Öffentlichen Raum bietet da einen wichtigen Weg, wieder mehr Menschen anzusprechen.

Warum hat Straßentheater in der deutschen Theaterlandschaft so einen geringen Stellenwert?

Das Problem ist, dass das institutionelle Theater das Theater im Öffentlichen Raum nicht anerkennt. Ich verstehe durchaus die Vorbehalte dem Genre gegenüber. Es ist ein großes Sammelbecken unterschiedlichster Ansätze und Qualitäten. Aber die Frage ist nicht, was im Moment da ist, sondern, was daraus werden könnte. Wenn die Bundeskulturstiftung eine Reihe auflegt, in der sich die Theater bemühen sollen, nach draußen zu gehen, „Heimspielfond“ heißt das glaub ich, bedeutet dies doch, dass durchaus gesehen wird, dass im Öffentlichen Raum Potential da ist. Nur geht es mir natürlich darum, dass das Theater im Öffentlichen Raum an sich Wert hat und nicht nur die Funktion, Leute wieder ins Theater zu ziehen, also in das geschlossene Theater zu ziehen.

Eine persönliche Frage: Warum machen Sie Theater für den Öffentlichen Raum und nicht anderes Theater?

Also mich persönlich interessiert die Guckkastenbühne nicht so sehr. Vielleicht auch gerade deswegen, weil sie ein Un-Ort ist, der an sich schon mal sehr artifiziell ist. Die Arbeit in Öffentlichen Räumen, in gelebten Räumen, die finde ich sehr spannend, weil es immer ein Abenteuer ist, mit einer Produktionen anzureisen, sie aufzubauen, den unterschiedlichsten Menschen und Räumen zu begegnen. Die Arbeit mit lebendigen Orten ist schon etwas anderes als die Arbeit in toten Bühnenräumen.

Herr Behr, was würden Sie sich für das Genre Theater im Öffentliche Raum für die Zukunft wünschen? Als Künstler wie als Festivalleiter.

Die Annerkennung für das Genre. Aber auch, dass es mehr Leute gibt, die sich mit diesem Genre auseinandersetzen. Künstler aus der Bildenden Kunst beispielsweise, die ihren Beitrag dazu leisten. Auch junge Regisseure, die einfach sagen: „Ist doch ein spannendes Thema, sich mit dem Öffentlichen Raum zu beschäftigen.“ Im Moment ist es für viele nicht spannend, weil die Möglichkeiten in Deutschland damit Geld zu verdienen, doch sehr gering sind. Das muss sich einfach ändern und dann werden sich auch die Produktionen ändern. Was ich mir auch wünsche ist, dass die Festivals, oder generell: dass von Seiten der Organisatoren mehr Verantwortung für die Produktionen im Genre Straßentheater übernähmen, z.B. in dem sie Koproduzenten würden. Man darf nicht nur auf den Markt zurückgreift, man sollte den Markt aktiv mitgestalten. Das fehlt in Deutschland, bedauerlicherweise.